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LERNE MENSCHEN KENNEN, DIE BEREITS GEGRÜNDET HABEN
Nicole Kühn

Die Fotorechte liegen bei Nicole Kühn.
Mein Name ist Nicole, ich bin 40 Jahre alt und lebe in Hamburg. Vor meiner Selbstständigkeit hatte zwei verschiedene Karrieren, die mich beide nur zum Teil glücklich gemacht haben, aber das Fundament für meine Selbstständigkeit gebildet haben.
Ich habe 2007 einen (damals noch) Magister in Geschichte und Politikwissenschaft gemacht und anschließend eine Dissertation begonnen. Das wissenschaftliche Arbeiten hat mir sehr viel Spaß gemacht, aber ich habe mich so weit entfernt vom „richtigen Leben“ gefühlt. Ich habe seit meiner Jugend Menschenrechtsarbeit auf ehrenamtlicher Basis gemacht und Stück für Stück realisiert, dass ich mich hauptberuflich mit Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit beschäftigen möchte, diese Themen innerhalb einer akademischen Laufbahn in den Geisteswissenschaften aber nicht in einem für mich ausreichenden Maße wiederfinde. Das war zunächst erschütternd für mich, da es für mich seit Schulzeiten nie einen Plan B zu einer Karriere im Universitätsbetrieb gegeben hatte. Nun war ich auf dem Weg dorthin und erkannte, dass es nicht das Richtige für mich war.
So habe ich meine Dissertation abgebrochen und von 2012 bis 2014 ein Studium der Sozialen Arbeit absolviert, mit einem Bachelor abgeschlossen und ein Jahr später meine staatliche Anerkennung erhalten. Ich habe zu Beginn meines Studiums angenommen, in einem Frauenhaus oder einer Frauenberatungsstelle arbeiten zu wollen, bin dann aber schnell in der Arbeit mit Geflüchteten gelandet, ich habe aber auch Erfahrungen in der Kinder- und Jugendhilfe gesammelt, sowie mit Trägern der Eingliederungshilfe kooperiert. Tätig war ich in unterschiedlichen Beratungsstellen, einem Mädchenzentrum, ich habe aufsuchende Arbeit gemacht, in einer Erstaufnahme für Geflüchtete gearbeitet, in einer Behörde und bei einem Bildungsträger.
Im Jahr 2016 bekam ich im Rahmen meiner Tätigkeit in einer Hamburger Erstaufnahmeeinrichtung mit mehr als 1000 Plätzen die Koordination des Gewaltschutzes in der Einrichtung übertragen. Dort konnte ich plötzlich praktische und theoretische Arbeit miteinander verbinden und die Arbeit mit Geflüchteten ernöglichte auch eine starke menschenrechtliche Orientierung, da es v.a. auch um den Schutz besonders vulnerabler Personengruppen ging.
Vor ein paar Jahren schloss diese Einrichtung und ich arbeitete in der Folge einige Zeit lang in der Hamburger Sozialbehörde. Wenn diese Arbeit auch nicht die Richtige für mich war, habe ich viel lernen dürfen: Ich habe gelernt, wie Verwaltung funktioniert, wie Haushaltsplanung abläuft und warum manche Dinge in der Verwaltung einfach ihre Zeit brauchen.
Mit all dem Wissen aus diesen unterschiedlichen Bereichen habe ich mich Anfang 2022 selbstständig gemacht.
Was hast du gegründet?
Ich habe mich als freiberufliche Beraterin für Gewaltschutz im Sozialwesen selbstständig gemacht. Ich erstelle Schutzkonzepte für Einrichtungen des Sozialwesens und Unterkünfte für Geflüchtete, verfasse in Auftragsarbeit Texte aller Art zum Thema Gewaltschutz, schule Mitarbeitende und halte Vorträge.
Mit dieser Arbeit führe ich drei Fäden zusammen, die sich durch mein ganzes Leben ziehen: Das Interesse an praktischer Arbeit im Sinne sozialer Gerechtigkeit, theoretische, abstrakte Arbeit und Menschenrechtsarbeit.
Welchen Impuls gab es für Dich zu gründen?
Ich habe in den letzten Jahren realisiert, dass es die Arbeit, die ich suche, in dieser Form nicht gibt und habe mich in der Konsequenz dazu entschlossen, mir diese Arbeitsstelle selbst zu erschaffen. Mein Impuls war das Bedürfnis, mehr von meinen Talenten und Interessen in meine Arbeit einzubringen. In meinen Festanstellungen ging das mal mehr und mal weniger, dem waren aber dennoch immer Grenzen gesetzt, was ja auch ganz natürlich ist, da ein Betrieb seine eigene Handlungslogik hat und die Aktivitäten der Mitarbeitenden zwangsläufig in definierten und fremdbestimmten Bahnen laufen müssen.
Hinzu kam, dass ich es in den Jahren meiner Festanstellung immer schwierig fand, nach einem vorgegebenen Schema zu arbeiten, thematisch wie zeitlich. Ich hatte mehrfach die Situation, dass ich Freitagabend oder am Wochenende total motiviert war oder eine Inspiration hatte, ein an der Arbeit auftauchendes Problem zu lösen, doch scheute ich bei einer 40-Stunden-Woche unbezahlte Überstunden, bloß um eine ambitionierte Idee voranzutreiben, die dann doch nicht verfolgt wird, weil keine Zeit und Kapazitäten dafür vorhanden sind.
Ich habe immer schon über sehr viel intrinsische Motivation verfügt und habe nie einen strukturierenden Rahmen wie Arbeitszeiten oder Vorgesetzte gebraucht, um Dinge zu erledigen. Ich wollte einfach für mich selbst strukturieren und priorisieren.
Ich habe mich zum einen nach Freiheit gesehnt und zum anderen nach einem Projekt, für das ich die volle Verantwortung übernehmen und in das ich mein Herzblut stecken kann
Als Selbstständige sieht dein Arbeitsalltag bestimmt anders aus als bei vielen anderen in der SAGE-Praxis*. Lass’ uns gerne an einem Tag teilhaben und skizziere ihn für uns:
Aktuell begleite ich ein Einrichtung der Frühförderung in Nordrhein-Westfalen bei der Implementierung eines Gewaltschutzkonzeptes und schreibe ein Angebot für eine wissenschaftliche Publikation. Beide Aufgaben brauchen viel Konzentration, so dass ich dies zwischen 8 Uhr und 13 Uhr erledige. Nachmittags kommen dann die Korrespondenzen zu diesen Projekten und zu anderen Personen, mit denen ich in Kontakt stehe.
Ich habe in der Regel die ersten Arbeitsstunden des Tages für meine aktuell wichtigste Aufgabe reserviert, da ich mich in den Morgenstunden am besten konzentrieren kann. Da erledige ich das Schreiben von Texten oder Arbeit an Konzepten, also Arbeit, die ich in Stille und mit einem klaren Kopf verbringen möchte.
Irgendwann um die Mittagszeit ist dann meine LinkedIn-Zeit: Ich lese, was die Menschen in meinem Netzwerk schreiben, verfasse Kommentare und stelle eigenen Content online.
Telefonate und Termine finden bei mir in den Nachmittagsstunden statt, wenn möglich. Falls Klient:innen mich vormittags sprechen wollen, ist das natürlich möglich, aber ich bevorzuge Gesprächstermine am frühen Nachmittag.
Gegen Nachmittag oder Abend lese ich dann, was es aktuell so in der Fachpresse gibt: aktuelle Studien und Fachbücher zu meinen Themen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben.
Ich habe keine definierte Stundenzahl pro Tag, es unterscheidet sich je nach Auftragslage, Energielevel und sonstigen Verpflichtungen, die das Leben bereithält.
Wir alle haben oft Ideen und denken “Das würde ich gerne anders machen” – und doch trauen wir uns nicht den Weg der Gründung, weil wir nicht wissen, wie. Kannst Du einmal berichten, wie Du vorgegangen bist?
Ich habe an einem gewissen Punkt verstanden, dass mich die Arbeit in einem konventionellen Beruf nicht glücklich macht und dass dies nicht an den Arbeitsstellen liegt, sondern an mir. Diese Erkenntnis hat mich erst geschockt und dann erleichtert. Das Gute daran, wenn Dinge an mir liegen, ist, dass ich sie aktiv verändern kann und auf keine Veränderung von außen warten muss.
Diese Erkenntnis fiel mit einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit zusammen, in der ich mir natürlich die Frage danach stellte, wo ich in Zukunft arbeiten soll. Ich hatte das große Glück, einen sehr netten und engagierten Sachbearbeiter in der Arbeitsagentur zu haben, dem ich erzählen konnte, was und wie ich gerne arbeiten würde, dass ich aber einen solchen Arbeitsplatz nicht finde. Ich glaube jetzt, wo ich zum ersten Mal wieder an die Begegnung mit diesem Arbeitsvermittler denke, dass er gemerkt hat, dass ich eine Kandidatin für eine Selbstständigkeit bin, denn er hat etwas getan, womit ich nie gerechnet hatte: Er stellte mir einen Gutschein für ein zweimonatiges Berufs-Coaching aus. In diesen Sitzungen kam dann ganz schnell heraus: Alle Fäden in meinem Leben lassen sich mit einer Selbstständigkeit zusammenführen, aus der sich eine Tätigkeit ergibt, die sich in einer Marktlücke und gefragten Nische befindet.
Mein Sachbearbeiter war begeistert von dem, was ich vorhatte und so habe ich meinen Gründungszuschuss beantragt, der zum August 2022 genehmigt wurde. Das hat mir die angenehme Situation verschafft, die ersten Monate ohne finanzielle Sorgen einfach loslegen zu können. Im Dezember 2022 schloss ich dann meinen ersten großen Auftrag ab und andere folgten und folgen weiterhin.
Was hättest du auf dem Weg zur Gründung mit dem Wissen heute anders gemacht?
Ich hatte wahnsinnige Angst davor, Akquise betreiben zu müssen. Mit dem Gedanken, selbstständig zu sein, habe ich seit sehr langer Zeit geliebäugelt und andere, die selbstständig waren, immer heimlich beneidet. Doch ich selbst sagte mir: Ich könnte niemals anderen mein Angebot „aufschwatzen“. Als ich dann meine Selbstständigkeit aufbaute, habe ich diese Angst bewältigen können und habe gelernt: Verkaufen ist eine Beziehung und wenn es nicht passt, passt es eben nicht. Wie auch bei Beziehungen und Freundschaften sind Absagen keine Abwertung, sondern eine mangelnde Passung, die aber nicht meinen Wert als Person definieren.
Ein weiterer Punkt ist, dass ich zu Beginn Probleme damit hatte, Dinge sich entwickeln zu lassen. Ich war ungeduldig und wollte alles auf einmal: Eine Website, einen Newsletter, Visitenkarten, einen Blog mit zahlreichen Texten darin, ein Corporate Design, einen starken Social Media Auftritt, Klient:innen, Fachliteratur lesen, ein Netzwerk aus anderen Selbstständigen.
Ich habe im Laufe der Gründung gelernt, dass all diese Dinge Zeit brauchen und aufeinander aufbauen.
Ich beobachte im aktuellen Diskurs im Bezug auf Selbstständigkeit vor allem zwei Extrempole: Zum einen ist das die sogenannte Hustle-Culture, zu der auch der abgedroschene Spruch gehört: „Selbstständig, das heißt selbst und zwar ständig.“ Ich habe diesen Spruch immer gehasst, aber seit ich selbst gegründet habe, weiß ich wie einseitig er ist.
Auf der anderen Seite stehen die Glücksversprechen von manchen Business-Coaches, die mit Slogans im Sinne von „Fünfstelliger Monatsumsatz bei drei Stunden Arbeit pro Woche als Coach verdienen“ oder „Millionär:in werden leicht gemacht“ werben und behaupten, beruflicher Erfolg komme hauptsächlich durch Persönlichkeitsentwicklung.
Die Wahrheit liegt genau in der Mitte. Natürlich muss ich am Business arbeiten und natürlich muss ich an mir selbst arbeiten. Vertrauen in sich selbst und den Prozess und engagierte Arbeit sind keine Gegensätze, sondern die beiden Seite derselben Medaille.
Du hast Soziale Arbeit bzw. in den SAGE-Professionen studiert. Wenn du dich zurück erinnerst: Was trägt dich aus dem Studium bis heute und hat Einfluss auf deine Idee und Gründung gehabt?
Ich habe an der Uni Duisburg-Essen Soziale Arbeit studiert und das Studium hat mir gezeigt, wie groß und vielfältig das Sozialwesen ist und wieviel Raum es in diesem Feld für Veränderung und Innovation gibt. Was ich spannend fand, waren diejenigen Lehrbeauftragten, die hauptberuflich woanders unterwegs waren und nur ein Seminar an der Uni gegeben haben. Ich habe bei diesen Dozent:innen gespürt, dass ihr Wissen aus der Praxis stammt und zugleich fand ich spannend, dass sie an mehreren Orten gleichzeitig arbeiten. Das hat mir persönlich immer mehr behagt als ein einziger Arbeitsplatz, an der ich meine wöchentliche Arbeitszeit ableiste.
Was hättest du rückblickend gerne im Studium bereits für die Gründung vermittelt bekommen?
Ich glaube, mir hätte es damals schon genügt, wenn mir überhaupt jemand gesagt hätte, dass es die Möglichkeit gibt, sich mit das Sozialwesen betreffenden Dienstleistungen selbstständig zu machen. Für mich waren damals alle anderen Berufszweige tauglich für die Selbstständigkeit, dieser aber nicht.
Ich glaube, ich hätte mir rückblickend so etwas wie ein Studienmodul gewünscht zum Thema „Nische finden“, denn für mich hat das Studium der Sozialen Arbeit einen einzigen Fokus: „Menschen studieren x, um als y oder z zu arbeiten“. Das ist natürlich richtig und es ist wahnsinnig wichtig, Stellen in den SAGE-Feldern qualifiziert zu besetzen, aber es gibt doch auch andere Menschen, die eben nicht in vorgefertigte Jobs passen.
Dazu wäre ein komplementärer Ansatz im Studium eine gute Sache: Welche Nischen und Innovationspotenziale gibt es für Menschen, die die Arbeit im SAGE-Bereich lieben, sich aber in keiner der vorhandenen Berufsgruppen wiederfinden? Danach zu fragen, würde vielen Studierenden neue Wege erschließen.
Was möchtest du den Studierenden und deinen zukünftigen Professions-Kolleg:innen für eine Gründung mit auf den Weg geben?
Trau Dich aus der Komfortzone! Wenn Du spürst, dass es da etwas in Dir gibt, was getan werden möchte, hör darauf! Findest Du eine Nische, ein ungelöstet Problem, das Dich fasziniert, dann schau es Dir an! Sei offen für Ratschläge und wertschätzende Kritik, aber mach es dennoch auf Deine Weise! Nervosität gehört dazu, ebenso wie Selbstzweifel. Ein konstruktiver Umgang mit diesen Gedanken hilft, zu schauen, wo man sich weiterentwickeln muss. Ich habe letztens in einem Podcast den schönen Ausdruck „failing forward“ gehört. Es ist nicht schlimm, wenn Dinge nicht auf Anhieb klappen. Ich hatte zu Beginn meiner Selbstständigkeit einen Facebook-Account und habe nach einigen Wochen gemerkt, dass niemanden interessiert, was ich dort poste. Statt mich zu grämen, habe ich auf LinkedIn mein Glück versucht, dort schnell ein Netzwerk aufgebaut und den Facebook-Account gelöscht. Dies sind Erfahrungswerte, die man unterwegs sammelt und nicht vorher bekommt. Ich wurde mir über die Monate so sicher, in dem was ich tue und habe irgendwann begonnen, dem Prozess zu vertrauen und in mir selbst zu ruhen.
Es gab im letzten Herbst eine Situation, in der ich jemanden, dessen Meinung ich sehr schätze, um Feedback zu meiner Gründung gebeten hatte. Er schaute sich meine Website an, äußerte sich ein wenig abfällig darüber, dass ich ein Nasenpiercing trage und sagte dann etwas im Sinne von „Es gibt ja immer mehr Gründungen, die Frage ist aber, wie sinnvoll die alle sind.“ Und was soll ich sagen… Es hat mich nicht gekränkt, kein bisschen. Ich war auch nicht wütend, nicht verletzt, es hat mich nicht berührt. Ich fand sein Urteil einfach unfundiert und so habe ich mich nicht länger damit aufgehalten. Ich schätze diesen Menschen nach wie vor, habe mich aber seinem negativen Urteil nicht angeschlossen, sondern wusste tief in meinem Herzen, dass er mit diesem Punkt Unrecht hat. So habe ich seine äußerst konstruktiven Ratschläge, die in seinem Feedback auch enthalten waren, umgesetzt, mich für diese bedankt und den Rest verworfen. Und tatsächlich bekam ich sehr bald nach diesem Gespräch Aufträge, die viel spannender waren, als ich es mir zuvor erträumt hatte. Dieser Moment war so wertvoll, denn ich habe gespürt, dass ich zu 100% hinter dem stehe, was ich tue.
*SAGE: Soziale Arbeit, Erziehung und Gesundheit
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